Mitte des 19. Jahrhunderts machten Ärzte in Großbritannien die Entdeckung, dass Vitamin-D-Mangel bei Kindern und Jugendlichen zu Wachstumsstörungen der Knochen, einhergehend mit Verbiegungen insbesondere der langen Röhrenknochen, und zu auffallenden Ganganomalien ("Watschelgang") führte. Diese Erkrankung wurde dann als "englische Krankheit" auch bei deutschen Kindern beschrieben, insbesondere, wenn sie in sonnenarmen Hinterhöfen von Berliner Häusern aufwuchsen. Bereits damals wurde auch gleichzeitig die Wirkung auf Parameter der Muskelfunktion wie zum Beispiel Kraft und Koordination beobachtet: die Kinder waren zum Teil unfähig, Treppen zu steigen oder sich aus der Hocke aufzusetzen. Auch konnten sie nicht entlang einer geraden Linie gehen.

Schon früh wurde erkannt, dass die Heilung von dieser Kinderseuche durch regelmäßige Einnahme von Lebertran erreicht werden konnte. Und dies führte in England dazu, dass jedes Schulkind an jedem Schultag von seinem Lehrer einen Esslöffel Lebertran einverleibt bekam. Durch milden Zwang wurde so verhindert, dass die Kinder der Einnahme dieses Heilmittels wegen seines wenig attraktiven Geschmackes auswichen. Diese Gabe von Lebertran wurde zum Teil bis in die Nachkriegszeit auch in Deutschland durchgeführt.

Später gelang es, Vitamin D synthetisch herzustellen. Es ergab sich dann die Frage, wie viel Vitamin D einem Kind gegeben werden müsse, um es sicher vor dem Mangel an Vitamin D, der in Großstadtbevölkerungen bis zu 30 Prozent der Kinder bedrohte (Berlin zur Zeit der Wende des 19. zum 20. Jh.), zu schützen.

Die Lösung des Problems war sehr pragmatisch: es wurde einfach nur gemessen, wie viel Vitamin D durchschnittlich in einem Löffel Lebertran enthalten war und als Antwort ergaben sich 400 IE. Und so wurde diese Dosis des Vitamin D bei der routinemäßigen Versorgung von Säuglingen und Kleinkindern festgelegt.

An sich ist schon immer bekannt gewesen, dass der Vitamin-D-Mangel nicht nur zu Verformungen von Knochen führt, weil das Knochenwachstum fehlgesteuert verläuft, sondern dass die an der englischen Krankheit, oder wie inzwischen der Fachname lautete, an der Rachitis leidenden Kinder durch Muskelschwäche geplagt waren. In den Vordergrund der Wahrnehmung traten jedoch immer die Skelettverformungen.

Auch beim Erwachsenen kann ein Mangel an Vitamin D wieder Krankheit erzeugen. Dabei tritt beim Erwachsenen der Mangel an Vitamin D dadurch in Erscheinung, dass mit zunehmendem Lebensalter die Haut an Fähigkeit einbüßt, die Vorstufe des Vitamin D zu bilden, das dann in Leber und Niere bis zum fertigen Hormon noch weiter verstoffwechselt wird. Das dabei entstehende Krankheitsbild unterscheidet sich jedoch von dem des Kindes unter anderem deshalb, weil sich die Knochen des Erwachsenen nach Abschluss des Längenwachstums nicht mehr verbiegen können, sondern im Zweifel dann brechen. Dieser Unterschied der Symptome führt auch dazu, dass die Vitamin-D Mangelkrankheit des Erwachsenen nicht wie beim Kind als Rachitis, sondern als Osteomalazie bezeichnet wird. Auch beim Erwachsenen, der nur an beginnender Osteomalazie leidet, ist zu erkennen, dass ein Vitamin-D-Mangel nicht nur den Knochenstoffwechsel stört, sondern offensichtlich auch die Muskelfunktion beeinträchtigt. Dies ließ sich klar bei Patienten beobachten, die wegen einer Epilepsie Antiepileptika erhielten, die in den Vitamin-D-Stoffwechsel eingreifen und dadurch einen Mangel hervorrufen.

Bei diesen Patienten, die an Störungen des Vitamin-D-Stoffwechsels leiden, stehen oft auch muskuläre Beschwerden wie beispielsweise Muskelschmerzen, Muskelschwäche und Koordinationsstörungen im Vordergrund, die in Einzelfällen so sehr beeinträchtigend sein können, dass aus früher lebhaften und gesunden Menschen Rollstuhlfahrer wurden.

Bei diesen Patienten ist es dann immer besonders eindrucksvoll zu erleben, wie durch eine angemessene Behandlung mit Vitamin D das Vollbild der Krankheit mit all seinen Qualen innerhalb von Tagen zum Schwinden gebracht und im wahrsten Sinne des Wortes "Lahme wieder gehen konnten".

Seit vielen Jahren wird Vitamin D auch bei Menschen, bei denen das Krankheitsbild einer Rachitis oder einer Osteomalazie nicht im voll ausgeprägten Ausmaß vorliegt, substituiert. Für viele Ärzte galt schon immer, dass z.B. bei der Therapie der Osteoporose die Gabe von Vitamin D in gleichem Maße zur Behandlungsbasis gehört, wie die Sicherstellung einer angemessenen Versorgung mit Calcium.

In letzter Zeit sorgten vor allem zwei sehr große Untersuchungen zu dem Thema Supplementation mit Vitamin D und Calcium für erhebliches Aufsehen: In der ersten Untersuchung teilte die Arbeitsgruppe um Prof. Leif Mosekilde von der Universität in Aarhus in Dänemark die dänische Kleinstadt Randers in zwei Hälften, wobei alle Einwohner von Randers, die älter als 66 Jahre waren, automatisch in die Untersuchung einbezogen wurden. Die eine Hälfte der Stadt erhielt 400 I.E. Vitamin D und zusätzlich 1000 mg Calcium regelmäßig zusätzlich zu ihrer normalen Ernährung. Die andere Hälfte der Teilnehmer wurde von einer Gemeindeschwester zu Hause besucht, um mögliche Stolperfallen und Risiken für Stürze zu erkennen und abzubauen, denn es ist bekannt, dass die überwiegende Mehrzahl der Stürze und Knochenbrüche älterer Menschen in der eigenen Wohnung passieren. Die Untersuchung in Randers wurde über vier Jahre durchgeführt und das Ergebnis war beeindruckend: unter den 5.771 Frauen über 66 Jahre, die an der Untersuchung teilnahmen, ergab sich für diejenigen Frauen die 400 I.E. Vitamin D und 1000 mg Calcium pro Tag einnahmen eine Senkung des Risikos für schwere Stürze um 12 Prozent. Dabei bedeutete ein schwerer Sturz immer eine so schwere Verletzung durch den Sturz, dass die betroffene Patientin in ein Krankenhaus eingeliefert werden musste. Es leuchtet ein, dass diese Verringerung des Risikos für Stürze auch mit einer Verringerung des Risikos für Knochenbrüche einherging. Entsprechend hatten die Frauen aus der Gruppe, die mit Vitamin D und Calcium versorgt wurden, sogar ein um 16 Prozent geringeres Risiko, sich einen Knochenbruch zuzuziehen. Dabei erklärt sich der noch bessere Erfolg im Hinblick auf das Risiko für Knochenbrüche aus der Tatsache, dass manche Frauen so stark stürzten, dass sie sich gleich mehrere Knochenbrüche zuzogen.

Die andere Untersuchung, die kürzlich für erhebliches Aufsehen sorgte, war die am 16.Februar im "New England Journal of Medicine" veröffentlichte Arbeit zu den Ergebnissen des so genannten "Women`s Health Initiative Trial". Diese Studie war bereits im Mai 2002 unter dem Titel "WHI-Studie" in Deutschland bekannt geworden und heftig diskutiert, da sie unter den 36.282 Frauen zwischen 50 und 79 Jahren, die an der Studie teilnahmen, ein erhöhtes Risiko für Brustkrebs, sowie für Herzinfarkte und Schlaganfälle nach längerer Einnahme eines hormonersetzen den Medikaments dokumentierte und damit dazu führte, dass die hormonersetzende Behandlung generell weder zur Vorbeugung noch zur Behandlung der Osteoporose weiter empfohlen wurde. Dies Studie untersuchte aber noch eine weitere Fragestellung in einem anderen Studienarm: die eine Hälfte der Frauen erhielt zusätzlich zur normalen Ernährung noch die Empfehlung, wiederum 400 I.E. Vitamin D und 1000 mg Calcium einzunehmen, während die andere Hälfte nur mit einem Placebo behandelt wurde. Nach einer Behandlungszeit von durchschnittlich knapp 4 Jahren (3,9 ± 2,9 Jahre) ergab sich in der Gruppe, die zu mehr als 80 Prozent auch regelmäßig ihre Medikamente einnahmen, eine signifikante Absenkung des Risikos für Schenkelhalsfrakturen um 29 Prozent. Vor dem Hintergrund, dass sich in der gesamten Gruppe die am Schenkelhals gemessene Knochendichte nur um 1 Prozent erhöhte, erscheint es doch sehr wahrscheinlich, dass eine Verminderung der Frakturrate am Schenkelhals nur durch eine geringere Sturzrate zu erklären ist.

Die Ergebnisse dieser oben genannten zweiten Untersuchung wurden allerdings durch die Presse an manchen Stellen missverstanden, weil sich in der Gesamtgruppe aller an der Studie beteiligten Frauen kein Effekt auf das Risiko für Schenkelhalsfrakturen ergeben hatte. Dies ist aber schon allein deshalb nicht verwunderlich, da das Durchschnittsalter aller an der Studie beteiligten Frauen mit 62 Jahren relativ niedrig war. Schenkelhalsfrakturen haben bei Frauen ihren Häufigkeitsgipfel so etwa zwischen 75 und 80 Jahren. Deshalb ist die Grundaussage dieser Studie auch eine ganz andere: es soll nämlich darauf hingewiesen werden, dass die alleinige Einnahme von Calcium und Vitamin D bei jungen Frauen nach den Wechseljahren das Auftreten einer Osteoporose mit oder ohne Knochenbrüche 25 Jahre später nicht verhindern kann. Diese Aussage ist vor allem vor dem Hintergrund der Situation auf dem amerikanischen Gesundheitsmarkt zu verstehen, auf dem sehr viele gesunde Menschen in großen Mengen alle möglichen Nahrungsergänzungsmittel in der Hoffnung zu sich nehmen, spätere Krankheiten damit verhindern zu können. Dieses Vorgehen ist in den allermeisten Fällen wenig sinnvoll, da man sich am besten durch eine ausgewogene und vitaminreiche Ernährung zusammen mit körperlicher Bewegung gesund erhält.

Da jedoch Vitamin D über die Hautsynthese besonders in unseren Breitengraden häufig nicht ausreichend gebildet werden kann, empfiehlt sich hier die Substitution mit Vitamin-D-Präparaten. Optimal zur Sturzprophylaxe ist dabei die Kombination mit Calcium, weil sich z.B. die Sturzhäufigkeit bei einer regelmäßigen Einnahme von 400 bis 1000 mg Calcium und 400 bis 1000 I.E. Vitamin D nachgewiesenermaßen um etwa die Hälfte reduzieren lässt.