Der Unterarm bricht nicht beim Schreiben und der Oberschenkel nicht beim Gehen. Man muss schon hinfallen. Hinfallen und sich die Knochen brechen - nur ein Problem für alte Menschen? Was man dagegen tun kann.

So etwa ab dem 65. Lebensjahr häufen sich Stürze, die besonders in Verbindung mit der Osteoporose zu schweren Frakturen führen können. Trotz der hervorragenden Unfallchirurgie in Deutschland haben diese Sturzereignisse häufig dauerhafte und einschneidende Folgen. Nach einem Oberschenkelhalsbruch erhöhen sich z.B. Sterblichkeit und Pflegeheim- versorgung um jeweils 20 Prozent. Gibt es dagegen wirkungsvolle Vorbeugemaßnahmen und wer ist besonders gefährdet?

Dr. Martin Runge - Osteoporse Training

Im Gleichgewicht bleiben

Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass 80 Prozent der Stürze ohne Krafteinwirkung von außen bei ganz gewöhnlichen Alltagsbeschäftigungen passieren. Sie sind einfach der Ausdruck einer verschlechterten Gehfähigkeit und Balance. Das ist jedoch kein unabwendbares Schicksal, sondern das Ergebnis von zu wenig Bewegung und damit chronischer Unterforderung des Bewegungsapparates über einen langen Zeitraum. So weiß man, dass Menschen, die häufig stürzen, sich durch ganz bestimmte Merkmale von denjenigen unterscheiden, die im hohen Alter genau so wenig sturzgefährdet sind wie weit jüngere.

» Tabelle siehe unten

Dr. Martin Runge - Osteoporse und Sturz

Aufschluss durch den Aufstehtest

Sturzrisiko Nr. 1 stellt die verminderte Muskelleistung dar. Damit gemeint ist nicht nur die Kraft alleine, sondern ein Produkt aus Kraft und Geschwindigkeit. Um einen Sturz zu verhindern, muss die Bewegung schnell, kräftig und genau auf die Situation abgestimmt sein. Mit dem "Aufstehtest" lassen sich Sturzgefährdete schnell und einfach erkennen. Dazu muss man fünfmal so schnell wie möglich aus einem normalen Stuhl und zwar ohne Zuhilfenahme der Hände aufstehen.
Man setzt sich startbereit und leicht vorgebeugt auf die Stuhlkante, die Arme vor der Brust gekreuzt und steht dann ganz schnell fünfmal nacheinander auf. Die Zeit für fünf komplette Aufrichtungen sollte nicht mehr als 10 Sekunden betragen.

Wackelfreier Tandemstand

Bei diesem zweiten Test muss man mit beiden Füßen genau hintereinander auf einer Linie 10 Sekunden stehen können. Damit lässt sich die Fähigkeit prüfen, die seitliche Balance zu halten. Sie ist besonders wichtig, denn die schwersten Stürze sind immer auf die Seite und Auslöser für die gefürchteten Frakturen im Bereich des Oberschenkelhalses.
Wenn man einen dieser beiden Tests oder gar beide nicht schafft, hat man ein erhöhtes Sturzrisiko. Hier ist auch eine Untersuchung der Knochendichte angezeigt, denn die größte Gefahr geht von der Kombination Sturzgefahr und Osteoporose aus.

Sehhilfen sind Geh-Hilfen

Der dritte große Gefahrenpunkt ist ein eingeschränktes Sehvermögen. Hierzu gehören auch Sehprobleme bei Dunkelheit und in der Dämmerung. Seitenunterschiede bei der Sehschärfe beider Augen scheinen besonders gefährlich zu sein. Die Augenheilkunde hat in den letzten Jahrzehnten großartige Fortschritte gemacht, von den Operationen des grauen Stars bis zur Laserbehandlung von Netzhautschäden bei Diabetes. Häufig reicht aber bereits eine einfache Maßnahme, wie z.B. die Sehschärfe zu überprüfen und die Brille neu anpassen zu lassen.

Wechselwirkungen von Medikamenten

Als vierter Risikopunkt sind bestimmte Medikamente einzustufen mit ihren Auswirkungen auf das zentrale Nervensystem. Höchst gefährdet sind alle Patienten, die mehr als vier verschiedene, ärztlich verordnete Medikamente einnehmen müssen (müssen!), egal um welche es sich dabei handelt. Diese so genannte Multimedikation ist Ausdruck eines eingeschränkten Gesundheitszustandes. Man kann die Medikamente natürlich nicht weglassen, sondern muss ihre Dosierung und zeitliche Verteilung überprüfen und optimieren. Bestimmte Medikamentengruppen verursachen regelmäßig eine erhöhte Sturzgefahr. Dazu gehören Schlafmittel, Beruhigungsmittel und Antidepressiva. Auch hier lässt sich die Gefahr nur gemeinsam mit dem behandelnden Arzt verringern. Letztlich kommt es auf die Kombination der Risikofaktoren an, wobei gegen die kombinierte Gefahr auch nur ein umfassendes, ganzheitliches Konzept mit multifaktoriellem Ansatz wirken kann.

Ein Sturz hat viele Väter

Man kann es nicht oft genug wiederholen und muss eindringlich warnen:

Ein Jahr nach einer hüftnahen Oberschenkelfraktur erlangt höchstens die Hälfte der Patienten die frühere Beweglichkeit wieder zurück, 20 Prozent sterben an den Sturzfolgen und 20 Prozent müssen in Pflegeheime umziehen.

Wer also mobil bleiben will, muss eine Hüftfraktur unbedingt vermeiden. Stürze sind zwar nicht das Vorrecht der älteren Generation, aber fast jeder Dritte über 65jährige stürzt ein- oder mehrmals pro Jahr, mit steigender Tendenz. Jeder fünfte Sturz führt zu einem Knochenbruch, d.h. über 130.000 Hüftfrakturen pro Jahr, mehr als 60.000 Oberarmfrakturen und fast 30.000 Beckenringfrakturen müssen pro Jahr in Deutschland stationär behandelt werden. Zwanzig bis 40 Prozent der Gestürzten leiden noch Monate danach an Schmerzen und Bewegungseinschränkungen, mit verheerenden Folgen auf die Psyche: Schmerzen und Angst vor neuen Stürzen führen zu einer Einschränkung der körperlichen und sozialen Aktivitäten.

Auch die beste Versorgung in der Unfallchirurgie kann diese Folgen nicht verhindern. Der Knochenbruch ist nicht die alleinige Ursache, sondern nur eine Zwischenstation in der pathologischen Kettenreaktion. Am Anfang stehen Geh- und Balancestörungen, was zu häufigen Stürzen führt, die wiederum sind Auslöser von Frakturen mit einem Verlust an Mobilität und Lebensqualität. Deshalb ist vordringliches Ziel, diese Kettenreaktion zu stoppen, bevor die Schäden zu groß werden.

Sturzauslöser

In jungen Jahren sind Stürze meist die Folge von riskanten Aktionen in Sport und Freizeit. Bei älteren Menschen treten die Stürze fast in allen Fällen im normalen Alltag auf. Ein älterer Mensch tut etwas, was er tausende Male getan hat, doch diesmal fällt er hin. Nachlassende Fähigkeiten, sich sicher zu bewegen sind dafür verantwortlich. Das System der Haltungskontrolle hat sich durch mangelnde Bewegung oftmals über Jahre und Jahrzehnte, Alterungsprozesse, aber auch einen Vitamin D-Mangel verschlechtert. Die Verminderung der Gehfähigkeit und Balance ist ein ganz langsamer Prozess, der schon Ende Dreißig beginnen kann und erst mit 75 oder 80 die kritische Schwelle erreicht. Man hat also viele Jahre Zeit, rechtzeitig etwas dagegen zu unternehmen.

Auch gibt es mehr als einen Grund für die Unfähigkeit, gut auf den Beinen zu bleiben. Der "Alterssturz" hat immer viele Gründe und über lange Zeit lassen sich einzelne Störungen ausgleichen. Erst wenn eine kritische Grenze überschritten wird, kommt unausweichlich der Sturz. Zusammenfassend sind Sturzrisikofaktoren, die man beeinflussen kann:

  • Verminderte Muskelkraft speziell in den Beinen
  • Verminderte seitliche Haltungskontrolle (seitliche Balance)
  • Klinisch fassbare Gehstörungen
  • Verminderte Sehschärfe
  • Geistige Störungen bis zur Demenz
  • Einnahme von mehr als vier verschiedenen Medikamenten (z.B. Neuroleptika, Antidepressiva, Antikonvulsiva, Benzodiazepine)
  • Zwei oder mehr Stürze oder ein Sturz mit schweren Folgen im vergangen Jahr.

Vier Schritte zur andauernden Bewegung

Die nachfolgenden vier Themenbereiche sollten für alle von Interesse sein, die nicht nur möglichst lange gesund leben, sondern dabei auch auf den eigenen Beinen bleiben wollen.

  • Tragen Sie – auch zuhause – einen Hüftprotektor, den Sturzhelm für den Oberschenkelhals, der hüftnahe Frakturen sicher verhindern kann.
  • Mit Kraft- und Balancetraining (Tai-Chi) kann das Sturzrisiko vermindert werden.
  • Vitamin-D-Mangel gezielt vorbeugen, denn er spielt eine große Rolle bei Sturz und Osteoporose. In Kombination mit Calcium stärkt es zusätzlich die Knochen und ist die Basistherapie bei jeder Osteoporose-Behandlung.
  • Muskelaufbautraining mit reflektorischer Muskelstimulation.

Tabelle: Sturz-Risikofaktoren

Gangbild ist sehr langsam oder sehr unregelmäßig

Auffällig sind kleine unregelmäßige, oder sogar mit häufigem Stolpern verbundene Schritte, Greifen nach jedem Halt ist ebenfalls ein Zeichen für Sturzgefahr

Balancestörungen

Wenn man nicht in der Lage ist, 10 Sek. im Tandemschritt zu stehen: die Füße stehen in einer Linie, die Ferse des vorderen Fußes berührt die Spitze des hinteren Fußes

Kraft-Leistungs-Verminderung der Beinmuskulatur

Sturzgefährdet ist, wer nicht in 10 Sekunden oder schneller 5x aus einem Stuhl ohne Zuhilfenahme der Hände aufstehen kann

> 4 verschiedene Medikamente pro Tag oder bestimmte Medikamente

Wer mehr als 4 Medikamente pro Tag benötigt, ist sturzgefährdet. Manche Medikamente können nicht abgesetzt werden, auch wenn sie die Sturzgefahr erhöhen

Zwei oder mehr Stürze im letzten Jahr

Jeder Sturz sollte ärztlich abgeklärt werden, auch wenn keine Verletzungen entstanden sind

Geistige Leistungsminderung

Menschen mit Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen sind besonders gefährdet, wenn sie viel umherlaufen

Sehen verschlechtert

Besonders gefährlich, wenn man mit einem Auge deutlich schlechter sieht als mit dem anderen

Problem an Beinen und Füßen

z.B. Schmerzen an Hüfte, Knie oder Fuß, wobei plötzlich einschießende Schmerzen besonders gefährlich sind

Gehhilfe erforderlich

Gangbild ist mit Gehstock, Gehwagen etc. subjektiv oder objektiv sicherer

Beweglichkeit und Gehleistung werden allmählich immer schlechter

Wenn jemand dazu neigt, seinen Bewegungsradius immer mehr einzuschränken, ist dies oft ein Hinweis auf eine Gehstörung

Osteoporose

Bei Brüchigkeit der Knochen kommt es schneller zu Knochenbrüchen (allerdings gibt es auch ohne Osteoporose Brüche von Hand und Oberschenkel)