Volkskrankheit Osteoporose

In Deutschland ereignen sich jährlich zirka 450.000 osteoporotisch bedingte Frakturen, davon ungefähr 130.000 Schenkelhalsfrakturen. Osteoporose stellt eine enorme Belastung für unser Gesundheitssystem dar und bedeutet für die Betroffenen ein großes individuelles Leid. Aufgrund der steigenden Lebenserwartung und der hohen Geburtenrate in der Nachkriegszeit und der damit verbundenen Überalterung unserer Gesellschaft, wird in den nächsten Jahrzehnten die Zahl der osteoporotischen Frakturen deutlich ansteigen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass ein enormer Handlungsbedarf besteht. Das beinhaltet auch die Suche nach Strategien für Diagnose und Therapie der Osteoporose und insbesondere für präventive (vorbeugende) Maßnahmen. Die Tatsache, dass sich Osteoporose schleichend über Jahre oder Jahrzehnte entwickelt, bis sich als Endpunkt der Erkrankung Brüche manifestieren, eröffnet die Chance, rechtzeitig Gegenmaßnahmen zu treffen.

Dr. Simon von Stengel: Osteoporose Training

In diesem Zusammenhang besitzt körperliche Aktivität einen herausragenden Stellenwert. Sie ist eine Maßnahme, über die ohne negative Nebenwirkungen, frühzeitig die Knochendichte beeinflusst werden kann. Gleichzeitig lassen sich sturzrelevante motorische Fähigkeiten verbessern. Körperliche Aktivität ist von nahezu jedem ohne Risiko zu praktizieren und kostengünstig und führt zu vielen weiteren positiven gesundheitlichen Effekten. Nur wenn wir es schaffen, flächendeckend Präventionsstrategien zu entwickeln, die auf einer generellen Änderung des Bewegungsverhaltens basieren und ferner spezielle Osteoporose wirksame Sport- und Bewegungsprogramme beinhalten, wird sich die Kostenwelle, die auf uns zurollt, aufhalten lassen.

Einfluss von körperlicher Aktivität und Sport auf das Osteoporose-Risiko

Körperliche Aktivität spielt sowohl im Rahmen der Prävention als auch in der Therapie der Osteoporose eine zentrale Rolle. Sie beeinflusst über ihre komplexe Wirkung auf verschiedene Organsysteme über unterschiedliche Wirkpfade das Hauptziel "Frakturrisiko" wie keine andere Maßnahme. Die zentralen Ziele von Sport und Bewegung im Zusammenhang mit Osteoporose sind einerseits die Reduzierung der Sturzneigung, andererseits die Erhöhung bzw. der Erhalt der Knochenfestigkeit. [siehe Abbildung] zeigt diese beide Pfade. Die dargestellten Begriffe Sturzhäufigkeit und Knochenfestigkeit werden im Folgenden erläutert. Über eine Bewegungstherapie lassen sich auch osteoporotisch bedingte Schmerzen positiv beeinflussen und generell die Leistungsfähigkeit und Mobilität steigern. Über welchen Pfad sich das individuelle Osteoporose-Risiko am besten senken lässt und welche Trainingsziele entsprechend formuliert werden, hängt von individuellen Voraussetzungen wie Alter, körperliche Verfassung, Begleiterkrankungen und Ausprägungsgrad der Osteoporose ab.

Dr. Simon von Stengel: Osteoporose Training

 

Trainingsziel Knochenfestigkeit

Wie andere Organsysteme besitzt auch Knochengewebe als biologisches System die Fähigkeit zur Anpassung an die vorherrschende Belastung. Der Arzt Dr. Julius Wolff (1836–1902) stellte schon vor über hundert Jahren in dem Buch "Gesetz der Transformation der Knochen" (1892) fest, dass Knochen auf mechanische Kräfte reagiert und sich als Anpassung auf einwirkende Kräfte umformt. Mittlerweile gilt der Einfluss der mechanischen Belastung als elementare Größe für die Steuerung des Knochenstoffwechsels im Sinne des Erwerbs bzw. Erhalts einer an die individuelle Belastung angepassten Knochenmasse und -struktur als gesichert. So ist in jedem Knochenabschnitt eine unterschiedliche, den vorherrschenden mechanischen Belastungen angepasste Knochenmasse und Knochenarchitektur vorzufinden. Die Anpassung des Knochens an mechanische Belastungen lässt sich über ein einfaches Regelkreismodell (Mechanostat-Modell nach Frost) darstellen. Danach versucht der Knochen, die aus mechanischen Belastungen resultierenden Verformungen in einem bestimmten Sollbereich zu halten. Treten ungewöhnlich hohe Belastungen auf, reagieren die Knochenzellen mit Um- und Aufbauprozessen, wodurch die Festigkeit des Knochens erhöht wird.

In einer Vielzahl von Studien an Mensch und Tier wurde inzwischen belegt, dass eine Verringerung der Belastung bzw. eine Entlastung, wie dies bei Bettruhe oder in der Schwerelosigkeit der Fall ist, zu einem Verlust an Knochenmasse und einer Verminderung der Knochenfestigkeit führt, während eine gesteigerte Beanspruchung mit einer Zunahme der Knochenmasse und einer Steigerung der Festigkeit verbunden ist. Welche sportliche Belastung den Knochen am deutlichsten beeinflusst, lässt sich durch Querschnittsstudien an Sportlern unterschiedlicher Sportarten beantworten. Sportarten, die mit hohen muskulären Spannungen verbunden sind (Kraftsport) und gewichtstragende Belastungen mit Sprüngen und Richtungswechseln (Sportspiele), sind mit einer hohen Knochendichte und dementsprechend hohen Festigkeit der belasteten Skelettabschnitte verbunden. Von "gewichtsneutralen" Ausdauersportarten wie Radfahren und Schwimmen profitiert der Knochen hingegen kaum.

Knochengewebe muss also höheren mechanischen Belastungen ausgesetzt werden, um Anpassungsreaktionen hervorzurufen. Das Gesetz "viel hilft viel", das sich für ein knochenwirksames Training ableiten lässt, bedarf bei der Umsetzung in die Praxis einer differenzierten Betrachtungsweise, da intensive Trainingsreize für Patienten mit klinisch manifester Osteoporose und generell für ältere Menschen, bei denen häufig degenerative Veränderungen am Bewegungsapparat oder anderen Erkrankungen vorliegen, ein Risiko darstellen. Ein Training mit dem Schwerpunkt Knochenfestigkeit sollte demnach im Sinne einer Prävention hauptsächlich bei Menschen Anwendung finden, die voll belastbar sind und keine manifeste Osteoporose aufweisen. Als Inhalte für ein knochenwirksames Training mit Erwachsenen haben sich intensives Krafttraining (60-80% der Maximalkraft) und gewichtstragende Belastungen mit leichten Stoßbelastungen wie "High Impact Aerobic", kleine Spiele und leichte Sprünge, am besten in Kombination, erwiesen. Wir konnten in einer eigenen Studie (Erlanger Fitness Osteoporose Präventionsstudie [EFOPS]) den positiven Einfluss eines entsprechenden komplexen 3jährigen Trainingsprogrammes auf die Knochendichte und weitere gesundheitsrelevante Parameter bei Frauen in ihrer frühen Postmenopause mit leicht erniedrigter Knochendichte (Osteopenie) zeigen.

Bei einer niedrigen Knochendichte ist gleichzeitig die Reizschwelle des Knochens für mechanische Reize erniedrigt. Der Knochen reagiert dann auch auf geringere Reize. So erwies sich in einigen Studien an älteren Menschen auch Walking als wirksam, die belasteten Knochen positiv zu beeinflussen, während es bei jungen Menschen keine Effekte zeigt. Schwimmen und Radfahren sind dagegen nicht geeignet, die Knochen zu stärken. Um eine Wirkung am Knochen zu erzielen, sollte in jedem Fall zweimal pro Woche trainiert werden. Generell sollte ein Training nicht ausschließlich auf den Knochen ausgerichtet sein, sondern die motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten in einem ausgewogenem Verhältnis verbessern, um die physische Leistungsfähigkeit optimal zu fördern und möglichst viele Risikofaktoren für Zivilisationskrankheiten positiv zu beeinflussen. Es sollten also immer Elemente von Kraft, Ausdauer, Beweglichkeit, Koordination und auch das Gleichgewicht trainiert werden.

Trainingsziel Sturzprophylaxe

Bei älteren Menschen sind aufgrund einer geringen konditionellen Leistungs- fähigkeit, einer Osteoporose-bedingten verminderten Belastbarkeit des Skeletts und eventueller gesundheitlicher Einschränkungen intensive knochenwirksame Reize nur bedingt möglich. Ferner gewinnen Stürze bei älteren Menschen bei der Manifestation einer Osteoporose einen zunehmenden Stellenwert. So stürzen 35 Prozent der über 65jährigen und 50 Prozent der über 80jährigen mehrmals im Jahr, wobei fünf Prozent der Stürze zu Frakturen führen. Entsprechend lässt sich das Frakturrisiko bei älteren Menschen am besten über Maßnahmen senken, die die Sturzhäufigkeit vermindern. Zur Sturzprophylaxe sollten Trainingsinhalte zum Einsatz kommen, die einerseits sturzrelevante motorische Fähigkeiten positiv beeinflussen, andererseits das Gleichgewicht selber verbessern.

Gleichgewichtstraining

Die Gleichgewichtsregulation stellt eine Meisterleistung des Körpers dar, bei der der Körperschwerpunkt über einer kleinen, sich ständig ändernden Unterstützungsfläche ausbalanciert werden muss. Die Erhaltung des Gleichgewichts erfordert eine ständige Analyse der momentanen Gleichgewichtssituation. Analysatoren erfassen permanent Richtwerte wie die Lage des Körperschwerpunktes, die Stellung der Körperteile zueinander, Muskel- und Sehnenspannungen und die Druckverhältnisse an den Fußsohlen. Entsprechend den Erfordernissen reguliert die Muskulatur korrigierend nach. Die Rückkopplungsmechanismen der Gleichgewichtsregulation lassen sich optimal durch eine gezielte Stimulation der entsprechenden Analysatoren verbessern. Dies kann einerseits durch eine Verkleinerung der Unterstützungsfläche (z.B. Übungen im Einbeinstand) oder eine "Labilisierung" der Unterstützungsfläche (Übungen auf weichen Matten, Wackelbrettern etc.) erfolgen. Über einen Gehparcour mit unterschiedlichen Unterlagen sowie Balancieren, Steigen über Hindernisse, etc. lassen sich Gleichgewicht und die Bewegungskoordination beim Gehen sehr leicht schulen.

Training sturzrelevanter motorischer Fähigkeiten

Motorische Fähigkeiten, die die Sturzneigung vermindern, sind die Kraft, die Ausdauer und in einem gewissen Ausmaß auch die Beweglichkeit. Wer ein hohes Niveau an Kraft besitzt, weist beim Gehen und Treppensteigen generell eine höhere Bewegungssicherheit auf und kann auch in Grenzsituationen, z.B. auf unebenem Boden oder beim Stolpern, noch adäquat regieren und über eine schnelle Ausgleichbewegung oder einen Schutzschritt einen Sturz vermeiden. Neuerdings wird in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung der Schnellkraft diskutiert. Eine gut ausgeprägte Ausdauer bedeutet, dass man auch bei längeren Gehstrecken nicht ermüdet und eine gute Bewegungskoordination und hohe Bewegungssicherheit "bis zum letzten Meter" gewährleistet ist. Eine ausreichend gute Beweglichkeit ist die Voraussetzung für eine gute Bewegungskoordination und –ökonomie und begünstigt damit auch die Bewegungssicherheit. In Studien erwiesen sich spezifisches Gleichgewichtstraining, Krafttraining, Tai Chi und komplexe Trainingsmaßnahmen mit mehreren Inhalten als wirksam, um die Sturz- häufigkeit bei älteren Menschen zu reduzieren.

Dem Training der Kraft kommt eine besondere Bedeutung zu, da sich durch Krafttraining sowohl die Sturzneigung als auch die Knochendichte positiv beeinflussen lässt. Krafttraining kann mit Maschinen, freien Gewichten, Gummibändern oder ohne Geräte durchgeführt werden. Es kann gut dosiert und individuell angepasst und deshalb mit jedem Teilnehmer durchgeführt werden. Isometrische Übungen können selbst bei schwerer Arthrose und fortgeschrittener Osteoporose wirksam und gefahrlos eingesetzt werden. Als Ausdauertraining können je nach Leistungsniveau ein gezieltes Gehtraining, Walking, Nordic Walking oder Aerobic zur Anwendung kommen. Schwimmen ist im Zusammenhang mit dem Ziel Sturzprophylaxe nicht günstig zu bewerten, da weder die Gleichgewichtsregulation noch die Beinmuskulatur entsprechend trainiert werden. Im Zusammenhang mit dem Sturzvorgang spielen, abgesehen vom motorischen Vermögen, weitere Faktoren eine wichtige Rolle. So ist die Angst zu stürzen ein wichtiger Faktor, der einerseits Stürze begünstigt, andererseits zu einem Vermeidungsverhalten führt, das wiederum die körperliche Aktivität negativ beeinflusst. So vermeiden viele ältere Menschen aus Angst vor Stürzen unnötige Gehstrecken, was zu einer weiteren Reduktion der körperlichen Leistungsfähigkeit führt. Dieser Teufels- kreis lässt sich durch gezielte körperliche Aktivität, zunächst unter Anleitung, durchbrechen. Kondition und Koordination lassen sich in jedem Lebensalter verbessern, das Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit steigt an.

Weitere Trainingsziele

Ein weiteres Ziel einer Bewegungstherapie bei bestehender Osteoporose ist die Reduktion von Schmerzen. In diesem Zusammenhang ist eine lockernde Funktionsgymnastik als Trocken- oder Wassergymnastik, Haltungsschulung und auch Schwimmen günstig zu bewerten.

Übergeordnetes Ziel sollte in jedem Fall die Freude an der (gemeinsamen) Bewegung sein. Besonders mit Hilfe gruppendynamischer Prozesse lässt sich dieses Ziel leicht realisieren und eine positive emotionale Basis schaffen, die die Grundlage für eine dauerhafte Motivation und Verhaltensänderung darstellt.